Martin Kippenberger, 1953 geboren und am 7. März 1997 gestorben,
Maler, Performer, Bildhauer und Vorzeigearschloch der wilden, lauten,
westdeutschen Männerkunst, war eine Legende, die am Sonntag postum zusammen
mit der Künstlerin Astrid Klein mit dem Käthe-Kollwitz-Preis
ausgezeichnet wurde). Die Legende sagt, daß Kippenberger tagsüber auf
den Kunstmoden surfte und mit bösem Lachen jedes Denkklischee der fettärschigen
Sozialdemokraten" zum Platzen brachte. Zum Beispiel mit einer Pseudo-Käthe-Kollwitz-Zeichnung
eines abgemergelten Afrikaners mit dem Spruch Neger haben einen längeren
- stimmt nicht!" (1982) oder mit der Serie Krieg böse" von
1983. Da steht ein niedlicher Weihnachtsmann auf einem riesigen Panzer und hält
rügend seinen Finger hoch. Die Legende sagt auch, daß Kippenberger
jede Nacht den Pubertären nachgab, der Frauen grundsätzlich nur Fut"
nannte, das Saufen als Kampfsport betrieb und einen unterwürfigen Künstlerhofstaat
hinter sich herzog.
Die noch florierende Paris-Bar
in der Kantstraße ist auch eine Legende, die legendär wurde,
weil seit Jahrzehnten in ihr ungezählte Film- und Kunstlegenden ein- und
ausgehen, unter anderem auch Martin Kippenberger, dessen Bilder schon seit 1979
in der Bar hängen und mit deren Wirt Michel Würthle Kippenberger seit über
fünfzehn Jahren befreundet war. Man braucht also nur in die Paris-Bar zu
gehen, Michel Würthle zu fragen und schon öffnet und klärt sich
darüber hinaus eine ganz andere Legende, nämlich die Legende vom
West-Berlin der 80er Jahre. Aber so einfach ist das nicht. Wenn man nämlich
abends, ohne einen Tisch bestellt zu haben, die Tür der nur halb vollen
Paris-Bar öffnet, steht man vor Michel Würthle, der ein dezentes
Tweedjackett trägt, einen Zettel mit den Tischreservierungen vor sich hat
und fragt: Sie wünschen?" Über Martin Kippenberger und die
Paris-Bar sprechen. Worauf Michel Würthle wie in einem Reflex mit der Hand
zum Türrahmen greift, sehr bestimmt den Weg versperrt, aber auch sehr
freundlich sagt: Kommen Sie morgen wieder."
Am nächsten Nachmittag ist die Bar leer. Nur ein Tisch ist
besetzt. Drei Geschäftsmänner in Dunkelblau und eine Frau in einem
grellroten Jackett. Hinter der Bar steht ein Mann und poliert Gläser.
Michel Würthle kommt mit einem eingepackten Bild aus einem Hinterzimmer. Er
packt das Bild aus und stellte es auf die Ablage über der kunstledernen
Sitzbank. Auf dem Bild sind Oberkörper und Kopf eines Mannes zu sehen. Eines
der letzten Kippenberger-Selbstporträts. Ich war gerade bei der Hängung
in der Akademie der Künste, und als alter Freund durfte ich mir eins
aussuchen." Würthle tritt einen Schritt zurück, schaut sich das
Bild an. Dann bestellt er auf französisch einen Espresso. Wir setzen uns an
einen Fenstertisch, und er sagt: Ich habe mir überlegt. Es geht ja
hier nicht um mich und meine Eitelkeit, sondern nur um den Martin. Da wurde ja
so viel Unsinn geschrieben. Von wegen Zynismus und Menschenverachtung und so
weiter. Das stimmt ja nicht. Der Martin war ein liebenswerter Mensch. Ich
glaube, ich kenne niemanden, der die Menschen so geliebt hat, wie er. Er hat
alle geliebt. Männer und Frauen, das war ihm gleich. Er war halt ein
Besessener."
Michel Würthle heißt eigentlich Michael.
Er hat in Wien Kunst studiert, zog nach Rom, dan durch Afrika, und lebte lange
in Paris. Aus Paris kam er 1970 als Michel nach Berlin und eröffnete am
Paul-Lincke-Ufer das österrreichische Restaurant Exil". Dort
lernte er Baselitz und Lüpertz kennen, und Ende der siebziger Jahre auch
den jungen Kippenberger. Irgendwann kam er ins Exil. Ich wußte, der
macht verrückte Sachen. Aber es war keine Zuneigung auf den ersten Blick.
Wir haben gebuckelt und die Haare aufgestellt. Wie im Wildgehege bei den
Pavianen. Dann hat Kippenberger das Kippenberger Büro" gegründet.
Ein Auffanglager für Talente. In dieser Fabrik gab es eine Unterabteilung,
die hieß das Lederkombinat. Das waren Frauen, die haben Ledersachen im Spät-Hippi-Hopp-Stich
genäht. Verkauft wurde natürlích nichts. Später hat er das
SO 36 gegründet, um Geld zu verdienen. Einen Club für
Undergroundbands. Ich war vielleicht zweimal da zum Absaufen." Inzwischen
hat sich die Bar etwas gefüllt. Zwei Schülerinnen sitzen auf der Bank
und reden leise. Ein junger, dünner Mann, den man regelmäßig im
Schöneberger Café M" mit einer dicken Sartre-Biographie
sehen kann (in der er allerdings nie liest), geht mit einer Schwarzhaarigen
einen Stapel Faxe durch. Michel Würthle beachtet niemanden und ist der
Mittelpunkt der Bar. Alle wirken nämlich etwas linkisch und hilfos wie auf
einer Bühne. Nur Würthle nicht. Das Theatralische und Kokette, das der
Paris-Bar seit 1979, als er sie mit Rainald Nohal übernahm, anhaftet, ist
ihm schon ganz zur Natur geworden. Die Art wie er Kunstpausen setzt, die
Zigarrette im Mundwinkel hängen läßt und auf die verregnete
Kanstraße guckt. Alles tatsächlich wie aus einem französischen
Film aus einem anderen Jahrzehnt.
Die Paris-Bar existiert seit 1950,
anfangs als eher billiges Bistro, in dem ein ehemaliger Kantinenkoch der französischen
Armee für ein paar Mark Zwiebelsuppe kochte. Würthle schmiß die
maroden Korbstühle raus, verspiegelte die Wände, übernahm das
Restpublikum aus Altprofessoren von der TU, brachte die Künstler aus
Kreuzberg mit und bestückte die Wände mit Kunst: Erst mal nur mit
Kippenberger, später auch mit Bildern von Baselitz, Beuys, Polke, Barfuß
und Oehlen. Ich machte mit Kippenberger einen Deal. Ich bekam einen Zyklus
mit Schwarzweißbildern, und er durfte lebenslang frei essen und trinken.
Wenn er in Berlin war, war er hier. Aber er war ja oft woanders. Immer
unterwegs. Dann kam der Erfolg. Alle zwei Wochen eine Ausstellung. Er war ja
getrieben, hat gearbeitet wie blöd und hat keine Ruhe gefunden. Gesoffen
hat er nur am Anfang aus Spaß. Später, um schlafen zu können".
In den 80er Jahren hatte auch die Paris-Bar ihren Höhepunkt. Nach
den Künstlern kamen die Filmleute. Wenders, Schlöndorff und in
Berlinale-Zeiten auch Hollywoodstars. Aber schon Ende der 80er Jahren kamen mehr
Geschäftsleute, Touristen und Möchtegernprominente. Was soll ich
zu dem neuen Publikum sagen?" Michel Würthle sieht irgendwie gequält
aus.
In diesem Augenblick öffnet sich die Tür und Rolf Hochhuth
kommt hereingestürzt, ein kleines Rollenköfferchen hinter sich
herziehend, und sagt sehr laut Guten Tag", aber kaum einer schaut
sich um. Am liebsten, so sieht Hochhuth aus, würde er nochmal rausgehen,
noch mal reinkommen und noch mal Guten Tag" sagen. Aber da sagt
Hochhuths rothaarige Begleitung Essen für zwei Personen", noch
lauter als Hochhuth Guten Tag" gesagt hat, und jetzt drehen sich tatsächlich
alle im Lokal um und sehen Hochhuth, der plötzlich zufrieden guckt. Nur
Michel Würthle hat sich nicht umgedreht. Das ist das Ignoranzprogramm,
denkt man, das zur Paris-Bar gehört wie die rote Neonschrift. Das freilich
blitzschnell in ein freundschaftliches Hallo-Rolf-alles-klar?-Programm umkippen
kann. Das macht wohl den Erfolg der Paris-Bar aus.
Jetzt haben wir ja mehr über mich geredet als über den
Martin. Ich kann nur sagen, er hat gern gelebt. Er war ja seit einem Jahr
verheiratet, hatte einen Hafen gefunden und ist nach Österreich gezogen.
Ich werde ihn vermissen, eh klar. Aber den Kitsch muß man vermeiden."
© Andreas Schäfer 1997